Biomathematik

Die Biomathematik ist ein Forschungsgebiet, das biologische Sachverhalte mathematisch modelliert und biologische Fragestellungen mit mathematischen Methoden zu beantworten versucht. Den biologischen Anwendungsgebieten sind hierbei keine Grenzen gesetzt: Biomathematische Forschung findet ebenso im „Kleinen“, z.B. in der Erforschung von Zahnkrankheiten (Fábregas 2014), Krebserkrankungen (Altrock et al. 2015) oder Herzproblemen (Cain 2011), wie auch im „Großen“, z.B. in Bezug auf die Erforschung von Epidemien (Kiss et al. 2017) oder ganzen Ökosystemen (Pastor 2008) statt. In letzteren Bereich gliedert sich das biomathematische Teilprojekt von DIG-IT!  ein.

Moderne Mathematik ermöglicht die Digitalisierung, z.B. durch das Bereitstellen benötigter Algorithmen und Methoden, andererseits befruchtet die Digitalisierung ihrerseits die Mathematik. So müssen nicht nur mathematische Methoden zur Digitalisierung selbst stets angepasst und verbessert werden, sondern die Digitalisierung führt zu enormen Datenmengen (Stichwort „Big Data“), die wiederum völlig neuer mathematischer und statistischer Methoden zur Auswertung bedürfen. Diese gegenseitige Befruchtung treibt sowohl die Digitalisierungsforschung, z.B. mittels Machine Learning als auch etliche mathematische Gebiete, wie etwa die statistische Datenanalyse stets voran.

Die Digitalisierung hat die biomathematische Forschung somit in den letzten Jahren zunehmend verändert, jedoch betrifft dies nicht alle biologischen Anwendungsrichtungen in gleichem Maße. Beispielsweise existieren in der Evolutionsforschung bereits viele halb- und vollautomatische Methoden, die kaum noch menschliches Eingreifen benötigen: Von der Genom-Sequenzierung über die Alignmentbildung anhand des Auffindens homologer Strukturen in der DNA verschiedener Spezies bis hin zur Erstellung eines evolutionären Verwandtschaftsbaums im Sinne bestimmter Optimierungskriterien gibt es heute etliche Softwaretools, die viele dieser Teilaufgaben recht eigenständig übernehmen.
In der Ökologie hingegen hat die Digitalisierung noch nicht in gleichem Maße Einzug gehalten. Gerade da viele Daten hier aus komplexen Bildaufnahmen bestehen, deren Auswertung hochkompliziert ist, bedarf es immer noch des manuellen Eingreifens von Expert*innen, um Informationen aus diesen Daten zu gewinnen. Es ist ein Ziel von DIG-IT!, diese Herausforderung zu überwinden und somit der Ökologie das gleiche Maß an Automatisierung zu ermöglichen, das in anderen Disziplinen längst zum Forschungsalltag geworden ist. Es ist davon auszugehen, dass diese Automatisierung zu veränderten Strukturen führen und somit langfristig die ökologische Grundlagenforschung maßgeblich beeinflussen wird. DIG-IT!  wird also dazu beitragen, die theoretische Ökologieforschung zu befruchten und neue Forschungsrichtungen aufzuzeigen.

Darüber hinaus wird auch die biomathematische Grundlagenforschung von DIG-IT!  profitieren, da hier mathematische Methoden weiter- bzw. neuentwickelt werden müssen, um sie gewinnbringend für ökologische Daten anzuwenden. So wird durch die Digitalisierung das Erkennen von Strukturen in der Natur möglich, die mathematisch bereits bekannt und gut beschrieben sind. Dies ermöglicht völlig neue Analysemethoden, die gerade in der Ökologie zu Erkenntnissen von gesellschaftlicher Bedeutung führen können, die den Bereich der reinen Grundlagenforschung, in dem die Mathematik üblicherweise angesiedelt ist, erweitern.

Hier setzt das Teilprojekt Biomathematik innerhalb von DIG-IT!  an. Es stellt die Schnittstelle zwischen den Theoretikern im Deep Learning Teilprojekt und den ökologischen Anwendern in den anderen Teilprojekten dar. Im Teilprojekt Biomathematik soll vor allem erforscht werden, inwiefern sich die Ergebnisse der selbstlernenden Algorithmen mit den Einschätzungen der jeweiligen ökologischen Experten decken und inwiefern sie ggf. durch Hinzuziehung neuartiger Verfahren verbessert werden können. Es wäre beispielsweise denkbar, verschiedene neu erhobene Datenstrukturen zu koppeln (z.B. bei den Fledermäusen: Bild- und Schallaufnahmen) und mathematisch zu testen, inwiefern existierende Daten zur Validierung der Algorithmen herangezogen werden können (etwa könnte die automatisierte Einteilung der Fledermausarten nach Ähnlichkeiten auf Bildaufnahmen („Clustering“) mit den herkömmlichen Clusteringmethoden wie etwa Neighbor Joining (Saitou & Nei, 1987) basierend auf öffentlich zugänglichen DNA-Daten, z.B. in GenBank, verglichen werden).

Darüber hinaus soll das Teilprojekt Biomathematik innerhalb von DIG-IT!  auch völlig neue ökologische Denkansätze liefern, die erst mittels der Digitalisierung der vorliegenden Daten möglich werden. Beispielsweise lassen sich Wurzeln mathematisch gesehen als zusammenhängende Graphen darstellen, die meistens einem graphentheoretischen Baum entsprechen (in einigen Fällen jedoch auch einem Netzwerk). Solche graphentheoretischen Bäume können „balanciert“ sein, wenn Verzweigungen recht gleichmäßig verteilt sind, oder sehr „unbalanciert“, wenn etwa das Wurzelwachstum sehr in eine Richtung geht und nicht gleichmäßig räumlich verteilt ist. In Phasen von Dürre etwa müssen Wurzeln teilweise tiefer wachsen, um Wasser zu erreichen. Auch eine ungleichmäßige Nährstoffverteilung im Boden könnte einen Einfluss auf das Wurzelwachstum haben. Mit Hilfe der Digitalisierung von zeitlichen Wurzelaufnahmen wird ein großes Repertoire an Daten bereitstehen, um erstmals graphentheoretische Balanciertheitsindizes auf Wurzeln anzuwenden und anhand derer Hypothesen zur Nährstoffzusammensetzung im Boden aufzustellen und zu testen. Dies hätte in Bezug auf die Optimierung des Düngereinsatzes in der Landwirtschaft eine große gesellschaftliche Bedeutung, wäre aber auch für die Biomathematik selbst von großem Interesse: Es gibt verschiedene Balanciertheitsindizes, deren Eignung für derartige Parameterbestimmungen bislang noch nie überprüft wurde. Darüber hinaus gibt es bislang keinerlei 3-D-Balance-Indizes. Diese sollen im Rahmen von DIG-IT!  entwickelt und getestet werden.

Auch weitere Strukturen, die im Rahmen der Digitalisierung von ökologischen Bilddaten automatisch erkannt werden, sollen durch DIG-IT!  mathematisch aufgegriffen und analysiert werden. Derartige neue Möglichkeiten, die sich aus der Digitalisierung ökologischer Daten ergeben, sollen vor allem im Rahmen der „Explorer“-Funktion des Teilprojekts Biomathematik von DIG-IT! eruiert werden und so den bilateralen Nutzen der Kopplung von Biomathematik mit Ökologie weiter steigern. Somit sollen nicht nur biomathematisch und digital versierte Ökolog*innen ausgebildet werden, sondern es ist auch ein erklärtes Ziel von DIG-IT!, ökologisch gut ausgebildete Biomathematiker*innen auszubilden, die in der Lage sind, biomathematische Konzepte weiterzuentwickeln, um sie passgenau für die Ökologie anwendbar zu machen.


 

Das Verbundprojekt „DIG-IT!” wird durch den Europäischen Sozialfonds (ESF) und dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern gefördert.